Wer ist der Schlepper – die BILD, Weißrussland und deutsche Mobiltelefone
von Dagmar Henn
Eigentlich berichtet die BILD über einen Rückflug irakischer Flüchtlinge aus Minsk nach Erbil in irakisch Kurdistan. Aber es wird letztlich ein Artikel gegen Weißrussland, obwohl die interviewten Rückkehrer dafür keine Grundlage bieten.
Beginnen wir mit der Schlagzeile. Es ist eine dreiteilige Überschrift. Klein steht dort "Sie haben uns geschlagen," dann folgt die eigentliche Schlagzeile "Migranten nach Belarus-Horror zurück im Irak" und darunter steht noch einmal, "Der Schleuser nahm unser Geld, wir haben unsere Häuser verkauft."
Schon dazu gibt es einige Anmerkungen. Die Anordnung impliziert, dass das "sie haben uns geschlagen" sich auf Weißrussland bezieht. Dazu liefert nicht nur der Bericht in den Aussagen der Befragten keine Anhaltspunkte, auch eine weitere Quelle, die im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise sehr aufschlussreich ist, bestätigt keine Aggression von weißrussischer Seite gegen die Migranten.
Diese Quelle ist ein Bericht der Firma Semantic Visions, der zusammenfasst, welchen Anteil soziale Medien an der Flüchtlingskrise an der weißrussisch-polnischen Grenze haben. Semantic Visions ist mit Sicherheit unverdächtig, Weißrussland oder gar Russland zu wohlgesonnen zu sein. Die tschechische Firma war ursprünglich bei der NATO-Osterweiterung beschäftigt; erhielt danach als Startup Unterstützung von SAP und hat 2019 einen Wettbewerb der britischen Regierung über die "Bekämpfung von Desinformation" gewonnen.
Wie öfter in solchen Fällen, wird zwar in der Zusammenfassung behauptet, er belege eine Beteiligung Weissrusslands, aber die Details des Berichts selbst geben ein völlig anderes Bild. Er ist einer der gründlichsten Einblicke in die technischen Strukturen der Migration, und belegt, dass es sich mittlerweile um ein ausgefeiltes System handelt. So gibt es beispielsweise in Istanbul, einem der Ausgangspunkte, Treuhänder, die die Zahlung für den Schleuser entgegennehmen, aber erst weiterreichen, wenn dessen Kunde den Erfolg der Schleusung bestätigt hat.
Aber zurück zur von der BILD behaupteten Gewalt gegen Flüchtlinge in Weißrussland. Im Text wird die in der Überschrift implizierte Behauptung noch einmal explizit wiederholt. "Viele der Heimgekehrten sprechen von Mißhandlungen durch die belarussischen Truppen, die sie immer wieder an die polnische Grenze getrieben haben."
Die aus den sozialen Medien kopierten und übersetzten Erlebnisberichte einzelner Migranten geben ein anderes Bild. Gewalt seitens weißrussischer Beamter wird nicht berichtet. Einem der Berichtenden hatte eine Grenzwache auf dem Weg zur weißrussischen Grenze geholfen, andere wurden dort an der Überquerung der Grenze gehindert, berichten aber, sie seien mit Nahrung und Wasser versorgt worden. Auch polnische Grenzer sollen übrigens den Flüchtlingen mit Essen und Wasser geholfen haben, zumindest, ehe die polnische Regierung beschloss, daraus einen Kampf um die Grenze zu machen.
In den zitierten Aussagen der Rückkehrer ist übrigens von Misshandlungen durch polnische wie durch litauische Staatsorgane die Rede. "Die Litauer haben uns geschlagen. Sie haben uns gezwungen, im Wald zu bleiben, damit wir dort sterben können. (...) Die Litauer haben uns bis Belarus geschlagen. Sie wollten nur, dass wir sterben." Nur - in der Überschrift des Artikels steht nichts vom "Horror Litauen" oder "Horror Polen"; da steht "Belarus-Horror", die Behauptung, es hätte Misshandlungen von weißrussischer Seite gegeben und die Zuschreibung der Verantwortung für die gesamte Entwicklung an Minsk; damit sind die Bedingungen gesetzt, dass beim flüchtigen Lesen die Akteure Litauen und Polen gleich wieder vergessen werden und damit selbst die litauische Brutalität Weißrussland zugeschoben wird.
Was weder logisch klingt noch mit den Erzählungen übereinstimmt, ist der zweite Teil des Satzes, "die sie immer wieder an die polnische Grenze getrieben haben". Warum auch sollten die Menschen dorthin getrieben werden müssen, wohin sie ohnedies wollen? Die gesamte Kommunikation in den von Semantic Visions ausgewerteten Gruppen dreht sich um das Ziel Deutschland. Dabei sind es insbesondere bereits nach Deutschland Ausgewanderte, die dort besonders aktiv sind. Und die zudem die Schlepper für den letzten Teil der Strecke stellen.
"Die Schmuggler, die Menschen von Polen nach Deutschland bringen – was in den überprüften Gruppen in den sozialen Medien beständig als die beliebteste Route aus Weissrussland genannt wird – leben üblicherweise in Deutschland. Das wird am deutlichsten durch die deutsche Vorwahl der Kontakttelefonnummern bestätigt, die die Schmuggler liefern, wie wir in diesem wie vorhergehenden Berichten verzeichneten."
Wie schreibt die BILD weiter? "Der junge Kurde berichtet, dass ein Schleuser ihnen helfen wollte, doch es waren nur leere Versprechen, in die Welt gesetzt von Diktator Lukaschenko."
Mit der Schleusung hat Weißrussland tatsächlich überhaupt nichts zu tun, auch nicht nach dem Bericht von Semantic Visions. Die Strecke von Irak oder Istanbul etc. nach Deutschland teilt sich auf in zwei Teile. Den Flug nach Weißrussland, der über ein Reisebüro gebucht wird, als Pauschalreise, und die Schleusung von Polen nach Deutschland, die beim in der Regel deutschen bzw. in Deutschland ansässigen Schleuser gebucht wird, der an einem vereinbarten Treffpunkt in der Nähe der polnisch-weißrussischen Grenze auf polnischer Seite die zu Schleusenden in Empfang nimmt. Die weißrussisch-polnische Grenze muss allein und zu Fuß überquert werden. Der Wagen bringt sie dann in die Nähe der polnisch-deutschen Grenze, die sie dann erneut zu Fuß queren müssen.
Interessant ist natürlich die Frage, warum bisher in Deutschland nichts darüber zu hören war, dass gegen bekannte Schleuser vorgegangen würde. Vermutlich hat das damit zu tun, dass nur in Teilen Deutschlands ein Verstoß gegen § 96 AufenthG (Beihilfe zur illegalen Einreise) überhaupt verfolgt wird. Jedenfalls ist es ausgesprochen unlauter, Weißrussland Schleuserei vorzuwerfen, aber die eigentlichen Schleuser und Werber, die in Deutschland sitzen und über die sozialen Medien identifizierbar sind, nicht zu verfolgen.
Die einzige weißrussische Handlung, die man in dem Bericht von Semantic Visions findet, ist, dass für Länder des Nahen Ostens Touristenvisa ausgegeben werden. Allerdings sind diese Touristenvisa schon nicht ganz frei, sondern eben an ein Pauschalreiseangebot gebunden, das über ein Reisebüro gebucht werden muss. Übrigens gilt das nicht nur für Flüge ab Istanbul, sondern auch für Flüge ab Dubai; es ging dabei mit hoher Wahrscheinlichkeit tatsächlich darum, den Tourismus zu beleben, und die Geschwindigkeit, mit der die Vernetzung in den sozialen Medien daraus eine Migrationsroute macht, wie auch die Effizienz, mit der sich die entsprechenden Firmen z.B. in Istanbul darauf einstellten, wurde unterschätzt.
Die Versprechungen, die zum Aufbruch verführen, gehen ebenfalls, auch das belegt Semantic Visions, von Deutschland aus. Von den Berichten jener, die bereits hier angekommen sind. Und die Informationen sind nicht nur oberflächlich. So lässt sich beispielsweise lesen, dass Arbeiten in Deutschland und Leben in Polen eine günstige Kombination sei, da die deutschen Löhne hoch, das Leben in Polen aber billiger wäre.
Es gibt in diesen Gruppen mittlerweile auch Berichte über gescheiterte Versuche der Einreise. Allerdings ist eines nicht zu erwarten – dass Menschen, die seit Jahren hier sind und unter ihrem Hiersein leiden, dies mit gleicher Vehemenz in den sozialen Medien verbreiten. Denn gegenüber Familie und Umgebung steht jeder Migrant unter Erfolgsdruck, und ein öffentliches Eingeständnis eines Scheiterns ist daher höchst unwahrscheinlich. Weshalb es eine natürliche Tendenz gibt, die Lebenssituation zu beschönigen, und sich immer weit mehr positive Berichte finden lassen werden als negative. Auch dafür ist weißrussisches Eingreifen nicht erforderlich.
"Beobachter zweifeln derweil daran, dass es sich bei der Rückholaktion der Iraker um ein tatsächliches Umdenken in Minsk handelt." Wie die Fakten, die in dem Bericht von Semantic Visions dargelegt wurden, zeigen, ist "Minsk" noch der am wenigsten handelnde Teil der ganzen Szenerie. Die Flugzeuge werden von den selben Reisebüros gechartert, die die Pauschalreisen anbieten; das ist im Tourismus auch nicht ungewöhnlich. So funktionieren Pauschalreisen. Der Veranstalter kümmert sich um Visum, Flug, Unterkunft. Welche der Pauschalreisenden andere Absichten hegen, ist für das Land, das das Ziel dieser Reise ist, nicht ersichtlich. Und erleichterte Pauschalreisen sind nicht ungewöhnlich; schließlich ist dadurch, dass der Aufenthalt mit gebucht werden muss, die Schwelle schon weit höher als bei einem einfachen Billigflug.
Wenn es, wie die BILD das schreibt, augenblicklich um 7.000 bis 15.000 Migranten in Weißrussland geht, aber von weit mehr als einem Flughafen Flüge nach Weißrussland möglich sind, belegt das, dass mitnichten jeder dieser Flüge voller Migranten ist, die nach Deutschland wollen. Wenn die Zahlen nach mehreren Monaten so niedrig liegen, bedeutet das, dass es sich nur um ein Bruchteil der eingetroffenen Pauschaltouristen handelt und mitnichten um alle. Bei diesen Vorgaben zu erkennen, wer tatsächlich Tourist und wer Migrant ist, ist allerdings bis heute selbst der EU nicht gelungen.
Aus dem Bericht von Semantic Visions könnte man im Grunde nur eine Konsequenz ziehen – Deutschland müsste handeln. Und zwar gegen die hier ansässigen Schlepper. Gleich, was die BILD namenlose "Beobachter" raunen lässt.
RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
Mehr zum Thema - RT-Reporter im Flüchtlingslager: Migranten glauben wirklich, dass Deutschland sie aufnimmt
Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.